Meine letzten Tage in Chile und die Rückkehr in die Heimat

"Wenn ein Reisender nach Hause zurückkehrt, soll er nicht die Bräuche seiner Heimat eintauschen gegen die des fremden Landes. Nur einige Blumen, von dem was er in der Ferne gelernt hat, soll er in die Gewohnheiten seines eigenen Landes einpflanzen." 

(Francis Bacon)


Schon seit dem ersten Tag meines Auslandsjahres hat mir vor der Vorstellung des Abschiedes gegraut. Bereits der Gedanke an den wirklich "letzten Tag" in Chile hat mir oft die Tränen in die Augen steigen lassen und ein unruhiges Gefühl begann sofort in mir aufzusteigen.
Und auf einmal war genau dieser Tag da, mein letzter Tag in Puerto Natales, einer Kleinstadt, am Ende der Welt, die in dem Jahr so etwas wie meine zweite Heimat geworden ist. Es war der letzte Tag, an dem ich meine Gastfamilie und Freunde zum letzten Mal für vielleicht lange, lange Zeit sehen würde und ich musste gehen, mit dem Zweifel, jemals wieder nach Chile zurückkehren zu können.
Ich war durcheinander und traurig, meine Koffer standen gepackt im Flur und meine Gastoma stand mit Tränen in den Augen im Türrahmen meines Zimmers. Zum letzten Mal habe ich mein Bett dort gemacht, für das ich immer mindestens fünf Minuten gebraucht habe, weil es aus unzähligen Decken besteht und man jede Decke abziehen und neu auflegen und glattstreichen muss.
In mir drin war auf einmal eine Leere, ich konnte nicht glauben, dass die Zeit so schnell vergangen ist. Wie im Flug ist das Jahr für mich rumgegangen und irgendwie machte mir das Angst.
Ich ging durch das Haus, in jedes Zimmer und musterte alle Gegenstände, Wände und Türen, damit ich sie immer und überall in Erinnerung hervorrufen konnte.
Ich konnte mich noch ganz genau an meine Ankunft erinnern, an die Flughafenszene als ich in Punta Arenas ankam und ich zum ersten Mal meine Gastfamilie gesehen habe. Als ich dann zum ersten Mal nach Hause kam und meine Gastoma zur Begrüßung ein Deutschland-T-Shirt trug und extra für mich empanadas, die berühmten chilenischen fritierten und gefüllten Teigtaschen gemacht hat. Als ich am nächsten Morgen aufstand und nur meine Gastoma im Haus war und wir uns mit Händen und Füßen verständigt hatten, weil ich noch kein Spanisch konnte. An den ersten Schultag, vor dem ich sehr aufgeregt war und am Ende so gut aufgenommen wurde. An die erste Schulgala, vor der wir noch im Wohnzimmer bei uns Fotos geschossen hatten. An die vielen xbox-Abende, an denen wir getanzt, gesungen und gespielt haben. An den Tisch, an dem wir immer viele viele Mahlzeiten zusammen eingenommen haben, an den Kühlschrannk, an dem nun Ansichtskarten aus Deutschland hingen, an den Wohnzimmersessel, hinter den meine Gastschwester immer ihre Spielzeuge versteckt, wenn sie eigentlich aufräumen sollte... Ich hatte so viele Erinnerungen an das Haus und an jeden einzelnen Raum.
Ich lies das Jahr in meinem Kopf Revue passieren und insgesamt kann ich schon sagen, dass ich eine sehr schöne Zeit in Chile gehabt habe. Eine Zeit, die allerdings auch mit Höhen und Tiefen verbunden war. Besonders im zweiten Halbjahr. Am Anfang habe ich alles eigentlich total toll empfunden, es war halt alles anders als in Deutschland und aufregend. Es gab viel Neues zu entdecken für mich. Ich habe mich auch nie alleine gefühlt, meine Gastfamilie hat mir sehr geholfen und wollte immer, dass es mir gut ging. In der Schule habe ich auch schnell Anschluss gefunden und ich habe mich nie einsam gefühlt. Nach genau drei Monaten hatte ich dann das erste Mal Heimweh gehabt, aber auch da wurde ich schnell abgelenkt durch meine Gastfamilie. Dann folgte bald darauf schon Weihnachten und ich habe ein vollkommen anderes Weihnachtsfest in Chile erlebt. Wir waren fast 15 Personen in unserem kleinen Haus, es war also unglaublich laut und chaotisch und das Fest hatte nichts Gemütliches oder Ruhiges an sich, was ich sehr vermisst habe. Weihnachten hat mir nicht so gut gefallen und ich freue mich auch schon sehr wieder auf die deutschen Weihnachten hier.
Dann sind wir Anfang Januar drei Tage lang mit dem Auto durch Argentinien gefahren, um nach Talca in den Sommerurlaub zu fahren. Einen kompletten Monat habe ich dann wortwörtlich dort vergammelt und gechillt. Ich habe leider nur sehr wenig unternommen und im Nachhinein ärgert mich das auch sehr. Danach waren wir dann noch einige Tage in Puerto Montt bei tia Mireya und dort habe ich wirklich viel gesehen  und der Urlaub war schön. Mitte Februar sind wir dann wieder nach Natales zurück gekehrt und dann bin ich fast täglich mit meinen Freunden rausgegangen, zum Spazieren oder Fahrrad fahren. Das Wetter war gut, nicht soo kalt und auch fast windstill und so etwas muss man in Natales einfach ausnutzen!!
In der Zeit haben dann auch meine Gasteltern ihre Unterrichtsstunden für das kommende Schuljahr zugewiesen bekommen und erschreckenderweise bekam mein Gastvater nur sehr wenige Stunden. Für die Familie war das ein Schock, schließlich war Gustavo immer der Hauptverdiener gewesen und Vanessa und er hatten eigentlich seit einem halben Jahr Pläne geschmiedet, im nächsten Jahr ein Haus für ihre kleine Familie zu bauen. Dann hat Vanessa aber spontan einen Job in einer anderen Schule angeboten bekommen, als "orientadora". Diesen Beruf gibt es in deutschen Schulen gar nicht. Als "orientadora" war Vanessa dann soetwas wie Vertrauenlehrerin und Schulpsychologin und hat gleichzeitig auch immer nach dem Rechten gesehen in der Schule, dass alle Schüler ihre Schuluniform trugen und dass alles aufgeräumt dort war. Sie bekam ein eigenes Büro. Nun arbeitet sie auch immer sehr viel länger als früher und kommt meistens erst sehr spät abends nach Hause.


In genau dieser Zeit hat sich dann vieles verändert. Zuerst spürte ich es nur und konnte nicht direkt sagen, was anders geworden war. Ich merkte sehr wohl, dass wir nichts mehr gemeinsam unternahmen. Ich saß einige Wochenenden allein zu Hause und durfte aber auch nicht mit meinen Freunden abends ausgehen. Die gingen ja nun seit dem neuen Schuljahr in die Disco und die war für mich absolutes Tabu. Es hätte mich vielleicht nicht so sehr gestört, wenn wir gemeinsam etwas unternommen hätten, aber Gustavo und Vanessa unternahmen nichts oder nur etwas getrennt voneinander. Nie mehr etwas mit mir - seitdem das neue Schuljahr angefangen hatte, also seit Anfang März! Es störte mich schon sehr, aber ich war in dieser Situation absolut machtlos. Ich fing an, deutsches Fernsehen zu schauen und habe mich so vielleich unbewusst schon ein kleines Bisschen auf Deutschland vorbereitet. Nicht, dass ich das wollte! Aber im Nachhinein war es wohl schon so. Und  dann kam der Tag, an dem mich Gustavo morgens zur Schule fuhr und mir berichtete, dass Vanessa und er sich trennen würden. Wann genau, wussten sie beide noch nicht, er musste auch erst einmal eine neue Bleibe finden. Ich war geschockt, hatte aber irgendwie schon damit gerechnet. Nur nicht so schnell. Ich habe 2 Tage gebraucht, um mit dieser Information zurecht zu kommen. Mir war sofort klar, dass ich dieses chilenische Zuhause so nie wieder vorfinden würde - wann auch immer ich Chile wieder besuchen würde. Klar würde sich einiges ändern, aber das war doch eine sehr krasse Sitiuation. Ich habe mich in der kommenden verbleibenden Zeit dann sehr auf meine Schulfreunde konzentriert und mit ihnen noch mehr unternommen, eben, so viel wie nur möglich. Erzählen durfte ich niemenden etwas, das hatte ich hoch und heilig versprechen müssen, da ja beide Gasteltern Lehrer sind und um ihren guten Ruf sehr besorgt sind - bis auf meiner Familie in Deutschland natürlich, deren Beistand ich auch ganz dringend brauchte. Aber wirklich viel konnten sie mir ja auch nicht helfen. Dafür waren sie einfach zu weit weg und kannten ja auch die näheren Umstände nicht so im Detail.

Wie schwer mir diese Situation zu schaffen gemacht hat, habe ich erst im Nachhinein reflektieren können. Ich habe das ganze Auslandsjahr mich darauf gefreut, eine Wüstentour in den Norden Chiles zu machen. Aber sie wurde nicht sofort von AFS angeboten. Erst Anfang/Mitte Mai erfuhr ich, dass die Tour stattfindet - und zwar zwei Wochen, bevor ich nach Deutschland zurückkehren sollte. Ich habe mich zunächst sofort schriftlich angemeldet. Aber dann habe ich erst fünf Tage, bevor die Tour losging, nähere Informationen dazu erhalten. Total spontan und ganz kurz vorher - typisch chilenisch natürlich. Das bedeutete für mich, ich musste einen Zusatzflug nach Santiago selbst buchen und würde dann alleine auch dorthin fliegen. Und als ich das begriff, wollte ich die Tour auf keinen Fall mehr machen. Ich wollte nicht weg von Natales, wo alles gerade zerbrach und die Stimmung zu Hause entsetzlich war. Die Situation mit Vanessa und Gustavo war inzwischen soweit eskaliert, dass mir beide ihre Hilfe versagten. Ich bin ihnen nicht böse deswegen, sie waren einfach so so sehr mit sich beschäftigt. Aber ich KONNTE allein diesen Flug nicht buchen. Ich brauchte dafür einen Drucker und jemanden, der mit seiner Kreditkarte diesen Flug online bezahlte. Meine Kreditkarte funktionierte dafür nicht. Meine Gastgroßeltern waren mir in dieser Situation auch keine Hilfe, sie waren einfach nur dafür da, sich um mein Wohlbefinden zu kümmern. Darauf belief es sich. Ich bekam gerade in dieser schwierigen Zeit ein besonders intensives Verhältnis zu ihnen und sie und meine kleine Gastschwester waren auch der Grund, warum ich nicht die Familie gewechselt habe. Mein Onkel Pablo holte gerade seine neue Frau Bernarda und ihre Tochter Camila aus Kolumbien ab. Ich habe dann meinen AFS-Betreuer Carlos gebeten mir zu helfen und die Tour abzusagen. Aber er war nicht sofort erreichbar und entweder MUSSTE die Tour storniert oder der Flug MUSSTE gebucht werden. Es war Wochenende und die Zeit lief mir davon! Ich habe dann die AFS-Notfall-Telefonnummer angerufen. Ich glaube 12 mal!!! Es meldete sich auch dort nicht sofort jemand. Aber dann, nach einer gefühlten Ewigkeit (es war aber vlt. eine 1/2 Stunde) bekam ich einen Rückruf! Ich bekam Hilfe vom AFS-Chile-Leiter Juan-Carlos persönlich. Er beruhigte mich und teilte mir aber mit, dass eine Stornierung der Fahrt für mich so kurz vorher nicht mehr möglich sei. Ich würde dann auf meinen Kosten sitzen bleiben. Aber er half mir doch irgendwie, sagte, ich solle schon einen Tag früher anreisen aufgrund der Wetterlage. Es schneite und es war Glatteis im Süden Patagoniens, weswegen die Flugzeuge oft Verspätungen hatten. Ich brach kurzfristig noch mehr in Panik aus. Wir hatten Samstagabend und er meinte, ich solle schon am Montag anreisen! Keine Ahnung, ob er mit meinem Betreuer Carlos Kontakt aufnahm, aber Carlos meldete sich dann auch noch bei mir und wir verabredeteten uns für den späten Abend. Früher hatte er leider keine Zeit. Um Erlaubnis habe ich dafür nicht mehr gefragt. Ich habe meine Gasteltern nur darüber informiert, dass ich sooo spät abends noch einmal wegginge. Ich hatte in dieser gesamten Zeit Dauerkontakt mit meinen Eltern in Deutschland. Auch sie versuchten, mich zu beruhigen und mir gut zuzureden. Es war Pfingsten in Deutschland und sie waren gerade übers Wochenende verreist. Ich glaube, ich habe ihnen das Wochenendde ganz schön vermasselt. Das tut mir leid! Lo siento!!! Nachts um 12 Uhr habe ich dann endlich diesen Flug mit Carlos Hilfe und mit den Kreditkartendaten meines Vaters aus Deutschland gebucht! Es war eine ganz und gar furchtbare Nacht, aber als dieser Flug dann endlich gebucht war, wurde ich ruhiger und fing an, mich doch langsam auf diese Fahrt zu freuen. Übrigens habe ich an dem gleichen Abend noch Carlos endlich ALLES über die Situation zu Hause erzählt. Er hat sich schon so etwas gedacht und selbst gemerkt, dass bei uns zu Hause etwas nicht stimmte. Aber auf seine zwischenzeitlichen Fragen hatte ich immer beteuert, alles sei prima. Ich hatte ja mein Ehrenwort gegeben zu schweigen. Außerdem habe ich mich ja nicht ganz unwohl zu Hause gefühlt, dank meiner herzlichen Gastgroßeltern Tito und Angelica, die meine Anwesenheit besonders in dieser Zeit, glaube ich sehr brauchten - als Unterstützung und Ablenkung. Carlos meinte nur, er hätte an meiner Stelle genau so gehandelt, aber es sei sehr gut, dass ich endlich mein Schweigen gebrochen hätte. Er bot mir auch sofort an, die Familie noch so kurz vor meiner Abreise zu wechseln, aber das kam für mich auf gar keinen Fall in Frage!!! Niemals!!! Noch in der gleichen Nacht packte ich meinen Koffer - darin war ich ja jetzt wirklich schon sehr geübt und begann, mich endlich auf die Tour zu freuen. Es wurde auch wirklich Zeit dafür! Am darauf folgenden Tag war Gustavo tagsüber nicht zu Hause und Vanessa packte mit einer weinenden Angelica alle Sachen von Gustavo in die Koffer. Es war entsetzlich und da merkte ich, dass es gut war weg zu  gehen, zu verreisen, etwas Abstand zu bekommen,...raus aus diesem angespannten Klima, hin zu einer einmaligen Wüstentour, die ich in meinem Leben nicht mehr vergessen werde. Es tat mir in der Seele weh, Angelica so weinen zu sehen. Sie schien am meisten unter der Situation zu leiden.


Ich habe dies alles aufgeschrieben, weil es ein wichtiger Teil meines Auslandsjahres ist. Ich brauchte Zeit, diese Gedanken aus der Distanz zuzulassen. Und ich habe begriffen, dass es Teil des Lebens ist, wenn Familien auseinander gehen. Ich war Zuschauer und konnte nichts dagegen tun. Aber ich habe für mich und mein Leben gelernt, dass man für seine Familie kämpfen muss und sie nicht einfach so "wegwirft". Ich kenne keine Gründe für die Trennung - und würde sie hier auch niemals veröffentlichen. Aber mir ging das alles viel zu schnell. Und das ist es, was mich traurig, wütend und sehr nachdenklich gemacht hat. Ich hoffe, ich werde daraus lernen!

Nach meiner Wüstentour hatte ich noch genau 10 Tage in Natales. Als ich zurückkehrte, war Pablo mit seiner Bernarda und ihrer 3jährigen Tochter Camila da. Das war ein Segen für mich! Die glückliche Bernarda war in der gleichen Situation wie ich und ich kannte sie ja bereits von Weihnachten her. Sie hat eine erfrischend-offene Art und die tat mir gut. Gustavo war ausgezogen, aber ich sah ihn täglich noch in der Schule. Er war ja mein Klassenlehrer und holte mich jeden Morgen mit dem Auto ab. Er wirkte auf mich sogar sehr viel befreiter als vor meiner Reise. Das war beruhigend. Ich ging zur Schule, zum Sport, zur BigBand und traf mich die letzten Male mit meinen Freunden. Und dann war der letzte Tag da. Es war der 2. Juli 2014. Morgens um 8.30 h brachten mich Gustavo und einige Freunde dann mit dem Auto zum drei Stunden entfernten Flughafen nach Punta Arenas. Mein Flug hatte allerdings vier Stunden Verspätung, so dass wir noch in die Stadt gehen und einen letzten Ausflug zusammen unternehmen konnten. Der Abschied dann war wirklich schrecklich und sehr tränenreich. Zum Glück bin ich nicht alleine in die Hauptstadt geflogen, Tabea aus Kiel ist mit mir geflogen. Ihr ging es ähnlich wie mir und auf dem Flug bauten wir uns jeweils gegenseitig auf.

In Santiago haben wir dann noch eine Nacht verbracht, zusammen mit den 9 anderen deutschen Austauschschülern, die mit uns nach Hause fliegen würden. Am nächsten Morgen brachen wir zum Flughafen auf, doch leider hatten wir eine Flugverspätung von elf Stunden. Die Zeit haben wir dann im Flughafen verbracht und bekamen kostenlos Essen. Der von mir so gefürchtete 14-Stunden Flug ging dann schnell um, da ich fast den ganzen Flug verschlafen habe.
In Madrid angekommen, war es unglaublich warm und alle Leute liefen in leichten Sommersachen rum, nur wir Austauschschüler trugen noch unsere Winterjacken.
Mein Anschlussflug ging dann nach Düsseldorf und dort konnte ich meine Familie nach 11 Monaten und 4 Tagen zum ersten Mal wieder in die Arme schließen. Ein bisschen merkwürdig war es schon, denn meine Schwester ist ein großes Stück gewachsen und benutzt neuerdings auch Parfum, was ich ganz ungewöhnlich fand. Aber ansonsten war fast alles beim alten.
Und auch, wenn ich das ganze Jahr über nicht viel Heimweh gehabt hatte, war ich doch froh, wieder zurück in der Heimat zu sein.















Inzwischen habe ich erfahren, dass auch Vanessa und Josefa ausgezogen sind.

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